Lionel

30. November 2019

Am 30.11.2019 erreichte mich die traurige Nachricht, dass Lionel in der vorherigen Nacht seine Flügel bekommen hat und nun bei seinem Papa im Himmel ist.

Lionels Papa hat erst vor einem Jahr den Kampf gegen den Krebs verloren. Wie viel Leid kann eine Familie aushalten, muss sie aushalten ...

Lieber Lio, Du hast nun Deinen Frieden gefunden, kein Leid mehr, keine Schmerzen - aber hier unten vermissen Dich viele Menschen!
Worte können nicht trösten, aber Deine Mami weiß, dass sie mich anrufen kann, wenn sie unsere Hilfe braucht.

LIONELS GESCHICHTE

geschrieben im Oktober 2015

Guten Morgen Ihr Lieben,

ich möchte Euch unser neustes Sorgenkind vorstellen:

Lionel, auch Lio genannt.

Lio ist heute neun Jahre alt. Vor ziemlich genau einem Jahr, schrieb seine Mutter seine Geschichte auf, weil die Familie dringend Hilfe brauchte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bitte lest die Geschichte zuerst:

15. November 2014

„Hallo,

Vielleicht erinnerst du dich noch an mich: Mit 3 Jahren und nur noch 10 kg Körpergewicht wurde ich im August 2009 ins Krankenhaus aufgenommen. Dort wurde festgestellt, dass ich einen Tumor genannt "Kraniopharyngeom" in der Mitte meines Kopfes hätte. Der Tumor war groß wie ein Tennisball.

In der Uniklinik in Köln wurde ich 10 Stunden lang von den Neurochirurgen operiert. Sie entfernten alles ohne meine Sehnerven zu treffen und mir das ganze Augenlicht zu nehmen. Darauf folgten 3 Wochen Intensivstation mit Höhen und Tiefen. Am 23. Dezember 2009, nach 4 Monaten und 2 weiteren Operationen, durfte ich die Klinik verlassen und Weihnachten zu Hause verbringen.

Da ich nach der 1. OP nur hören konnte, musste ich motorisch alles neu erlernen. Mama hatte gedacht: Tumor raus und alles wird wieder gut! Aber von wegen: Ab sofort trank ich nichts mehr, so erhielt ich einen Mageneingang, zuerst eine PEG und dann den Button. Ich aß ohne Ende und nahm 20 kg zu. Ich hatte nach der OP kein Sättigungsgefühl mehr, so dass Mama und die Ärzte einen Diätplan erstellen mussten. Daran halten sie sich noch heute.

Der Tumor, zwar gutartig, saß auf der Hypophyse. Die Aufgabe der Hypophyse ist es, Ess- und Trinkverhalten zu steuern, die Temperatur des Körpers zu regeln, Hormone wie z. B. die Schilddrüsenhormone auszuschütten und den Schlaf- und Wachrhythmus zu kontrollieren. Glaubt mir es ist nichts mehr wie es war! Nach der OP konnte ich mein Leben bei Null wieder anfangen, so dass ich heute mit meinen 8 Jahren auf einem geistigen Stand von 3 ½ Jahren bin.

Meine Mama und Papa haben die letzten 5 Jahre "alles" getan, um mir zu helfen, mich zu fördern, mich zu unterstützen und mich nach vorne zu bringen. Doch mit einem Punkt sind sie nach längerer Zeit nicht mehr klar gekommen: meinem Schlafverhalten. Seit dem ich wieder zu Hause war, gab es keine ruhige Nacht mehr.

Ich stand - und stehe auch heute noch - jede Nacht auf und das nicht nur einmal. Das Schlimmste waren die Nächte, in denen ich von abends bis am frühen Morgen 12-mal aufgestanden bin. Dann will ich essen, trinken, spielen und meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Zeitungen und dünne Kartons zerreißen.

Nach 3 ½ Jahren hatte meine Mama einen Erschöpfungszustand. Seitdem ist sie in ärztlicher Behandlung. Ab sofort durfte sie keine Nacht mehr aufstehen, konnte nur noch das Allernötigste machen und wurde für ein ½ Jahr krankgeschrieben. Noch heute braucht meine Mama Hilfe, um im Alltag zurechtzukommen.

Ab da musste Papa alleine ran. Papa war und ist tapfer! Er hatte dann alleine die Nächte weitergemacht, zu Hause auch noch mit angepackt und war seiner Arbeit treu nachgegangen - so gut es ging. Aber auch sein Körper fing an, sich über den Schlafentzug zu beschweren.

Und dann begann ein Wunder: Papas und Mamas Freunde konnten sich das nicht mehr mit ansehen, sie wussten über alle wichtigen Situationen Bescheid und hatten auf dem Herzen, uns zu helfen und zu retten. So entstand seit Januar 2014 eine Nachthilfe für mich. Meine Freundin Patrizia lebt bei uns und betreut mich jede Nacht. Tagsüber schläft Patrizia, damit sie nachts wieder fit für mich ist.

Aufgrund meiner Grunderkrankung und deren Folgen sowie nur noch 10%iges Sehvermögen, Zöliakie (Gluten-Unverträglichkeit) und meinem Mageneingang "Button" besitze ich einen 100%igen Behindertenausweis und bin in Pflegestufe 2 eingestuft worden.

Daher besuche ich seit letztem Jahr eine Förderschule für Körperbehinderte. Nachdem ich das Einführungsjahr in der Hugo-Kükelhaus-Schule absolviert habe, gehe ich jetzt ins 1. Schuljahr. Wir sind 13 Schüler und teilen uns 2 ½ Lehrer. Persönlich werde ich ganztägig von einer Integrationshelferin in der Schule betreut. Sie ist für meine Pflege und Versorgung zuständig.

Ein Freundeskreis von Mama und Papa hatte die Finanzen für 1 Jahr gestemmt: Danke, dass Mama und Papa wieder zu Kräften kommen durften und jede Nacht ohne große Unterbrechung schlafen konnten. Papa und Mama sind jetzt wieder viel entspannter!

Doch ein neues Jahr steht vor der Tür: das Jahr 2015. Leider hat sich mein Schlafverhalten in den letzten 5 Jahren - und auch seitdem Patrizia da ist - nicht verändert. Wir als Familie brauchen Hilfe!

Die Überlegung ist, Mamas und Papas Freundeskreis um einige Schultern zu erweitern, um so auch im neuen Jahr die Nachthilfe zu finanzieren.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Brief durchzulesen

Dein Lionel

Liebe Grüße auch von meinen Eltern, meinem Zwillingsbruder und meiner großen Schwester.“

Die Jahre 2014 und 2015 waren und sind durch den Freundeskreis gesichert.

Nun wird juristisch geprüft, ob nicht doch „ein Amt“ dafür aufkommen muss.
Warum erst jetzt!?
Nach Jahren des Kampfes waren die Eltern erschöpft, müde und hoffnungslos.
Nach jedem „Nein“ – und das kommt ja IMMER zuerst - steckten sie den Kopf immer weiter in den Sand, weil sie keine Kraft mehr hatten, um weiterzukämpfen.

Dazu kommen aktuell weitere Probleme mit Lio.

Aufgrund seiner Krankheit wird er zunehmend aggressiver und ist inzwischen eine Gefahr für sich selbst und für andere. Steht er nicht im Mittelpunkt, oder geht ihm etwas gegen den Strich, schlägt er ohne Vorwarnung zu. Alle Schränke im Haus sind mit Spanngurten gesichert, weil Lio auch gerne das komplette Geschirr zertrümmert oder Gläser gegen die Wand pfeffert. Die größte Gefahr besteht allerdings darin, dass es irgendwann nicht mehr nur die Faust sein wird, sondern dass schlimmstenfalls vielleicht auch ein Messer darin sein könnte.

Lio wird zunehmend einfach unbeherrschbar und unberechenbar.

Darunter leidet die ganze Familie mittlerweile extrem, besonders aber seine Geschwister. Sein Zwillingsbruder leidet derart unter der Situation, dass seine Leistungen in der Schule rapide abgefallen sind und er nun wieder ein Jahr zurückgestellt werden muss. Teilweise ist er gar nicht ansprechbar und zieht sich in seine eigene Welt zurück.

Inzwischen weiß man sich gar nicht mehr anders zu helfen, als Lio täglich mit hohen Dosen Diazepam halbwegs ruhig zu stellen. Aber selbst das schlägt bei Lio kaum an, auch eine Reaktion seiner Krankheit. Medikamente schlagen bei ihm ganz anders oder gar nicht an, als bei anderen Menschen.

Der Arzt, der ihn seit der Intensivstation neurologisch betreut, ist inzwischen Chefarzt in Herdecke, wo Lio sofort einen Platz in der Tagesklinik bekommen könnte. Er kennt Lio und ist ihm sehr zugetan. Dort könnte er eingestellt werden und eine Verhaltenstherapie bekommen.

EIGENTLICH gibt es endlich Hoffnung, wenn man nur endlich den finden würde, der für Lios Integrationshilfe aufkommen muss, denn diese Person ist die Bedingung der Klinik für diesen Aufenthalt. Zunächst ist das Ziel erstmal die Tagesklinik. Allerdings hoffen wir, dass der Arzt Lio eine Weile stationär aufnimmt, wenn er live miterlebt, wie auffällig und aggressiv Lio inzwischen ist.

Ein stationärer Aufenthalt würde es der Familie nach neun Jahren endlich ermöglichen durchzuatmen und Ruhe zu finden, Kraft zu sammeln, für die weiteren Aufgaben.

Aber das Zeitfenster schließt sich.
Kann Lio nicht in dieser oder in der nächsten Woche in Herdecke sein, gibt es erst im Jan/Feb eine neue Möglichkeit. Bis dahin möchte ich persönlich sagen: kann man für nichts garantieren.

Ich selbst habe Lio als ganz lieben kleinen Kerl kennengelernt, er hatte gerade seine „sanften Minuten“, als ich da war. Wenn man ihn so erlebt, kann man kaum glauben, dass er seine Familie so tyrannisiert, aber Spanngurte an den Schränken und hoffnungslose, müde Gesichter und verdächtig glitzernde Augen, wenn es im Gespräch „ans Eingemachte“ geht, erzählen eine ganz andere Geschichte.

Die Familie kümmert sich aufopferungsvoll, kann das aber physisch und psychisch nicht mehr lange leisten. Die Grenzen der Belastbarkeit sind längst überschritten!

Lio kann nichts dafür, dass er so ist, wie er ist. Er ist krank, sein Verhalten ist seiner Krankheit geschuldet und so muss ihm, als auch seiner Familie entsprechend schnellstens geholfen werden. Und nur, weil Lio einer von weltweit nur 15 bekannten Fällen mit diesem Tumor ist, kann es ja nicht sein, dass sich niemand für ihn verantwortlich fühlt!?

Nur, weil er sich mit seiner Krankheit in einer Art Grauzone bewegt, kann es doch nicht sein, dass niemand dieser Familie hilft!?

Ich habe bereits einige Leute angesprochen und ich bin sicher, dass entscheidende Personen den Fall heute mit anderen Augen sehen, als noch letzte Woche.

Warten wir die nächsten Tage ab …

Freitag war wieder so ein Tag, an dem ich nach Hause kam und als Erstes meinen Sohn in den Arm nahm, ihm sagte, wie lieb ich ihn habe und unendlich dankbar war, dass ich (bisher) ein gesundes Kind habe … das ist nicht selbstverständlich, sondern das größte Geschenk!

Ich wünsche Euch allen einen schönen Wochenstart,

liebe Grüße
Eure Tina