Emilia

Eine glückliche Familie mit zwei Kindern in Deutschland.

Die Mutter arbeitete bis zur Geburt ihres dritten Kindes, sehr erfolgreich als Dozentin, wollte nur vier Wochen nach der Geburt zurück in den Job. Der Vater hat ebenfalls einen guten Job, der ihn allerdings oft auch über längere Zeiträume nicht zu Hause sein lässt. Vor der Geburt des dritten Kindes, kauften sie sich ein Zuhause, rechneten natürlich mit zwei Gehältern, wie junge Familien das immer machen. Läuft ja alles.

Was ihnen dann passierte, damit rechnet niemand …

Emilia ist heute vier Jahre alt. Man könnte sagen, sie ist ein Wunderkind, denn es ist tatsächlich ein Wunder, dass sie lebt, aber ihre Geschichte ist traurig und dramatisch. Emilia wuchs neun behagliche Monate im Bauch ihrer Mutter heran, ein rundum gesundes Baby wurde erwartet. Das dritte Kind der Familie, das als unproblematischer „Mitläufer“ geplant war. Die Schwangerschaft war auch unproblematisch, auch wenn sie als Risikoschwangerschaft eingestuft war.

Dann der Supergau:

als sich die Geburt eines Nachts ankündigte, fuhren ihre Eltern ins Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass es wohl doch noch „einen Moment“ dauern würde, die Geburt sei sowieso per Kaiserschnitt geplant, schickte den Vater nach Hause und ließ sie über eine Stunde allein. Plötzlich merkte sie, dass es etwas nicht stimmte, weil sie anfing, Blut zu verlieren. Sie konnte aber nicht mehr aufstehen und es gab auch keinen Klingelknopf in ihrer Reichweite, keine Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen und um Hilfe zu rufen.

Als man sie fand, war es für das Baby eigentlich schon zu spät, denn es war das Blut des Babys (Nebennierenbluten), welches inzwischen aus ihr herausströmte. Ein Notkaiserschnitt wurde eingeleitet, Emilia wurde tot geboren, weil die Blutversorgung abgerissen war, es gab keine Lebenszeichen. Dann reanimierte man sie 1,5 Stunden, immer wieder, mit fatalen Folgen.

Die Dauerdiagnosen lauten: tiefgreifende Entwicklungsstörung, Reanimationsfolgen, Taubheit, entwicklungsbedingte Kommunikationsprobleme (sie spricht nicht), Störung des Schlaf-Wachrhythmus, Hyperaktivität, Ticstörung mit Spasmen, Mikrozephalie.

Was hier mit ein paar medizinischen Wörtern beschrieben wird, ist für die Familie ein Albtraum, ein Problem, das jeden Tag größer wird. Ein normaler Alltag, ein normales Familienleben, sind unmöglich geworden. Auch wenn die Eltern sich am Anfang gesagt haben: es ist so, wie es ist und wir werden unser Leben nicht umstellen. Wir werden eine normale Familie sein.

Heute haben sie eingesehen: sie sind keine normale Familie mehr, weil die massiven Hirnschädigungen Emilias es schlichtweg nicht zulassen.

Ein gemütlicher Fernsehabend, einkaufen, eine Spielrunde, Ausflüge, Urlaub, mal ne Stunde ein Buch lesen, Kino- und Restaurantbesuche, das geht alles nicht mehr … nicht mal in Ruhe duschen, ist für die Mutter unproblematisch möglich. An Schlaf ist gar nicht mehr zu denken, weil Emilia nachts nur zwei, drei Stunden schläft und auch das nur gemeinsam mit ihrer Mutter auf dem Sofa, sonst kommt sie gar nicht mehr zur Ruhe.

Das zerrissen sein der Mutter, zwischen Verantwortung und Pflichtgefühl für ihre kranke Tochter und für ihre beiden größeren Kinder, reibt sie auf! Die beiden 9- und 16-jährigen Geschwister übernehmen automatisch Verantwortung, die für ihr Alter viel zu groß ist und sie leiden mehr und mehr unter der Situation.

Vom Eheleben ganz zu schweigen.

Emilias Mutter KANN nie sagen „Emilia, warte bitte mal einen Moment“. Als wir gestern telefonierten, rief sie plötzlich: “Oh nein, ich war nur eine Sekunde im anderen Raum. Jetzt hat sie alle Sachen aus dem Kühlschrank auf den Boden gewischt, alles läuft aus! Aufgrund der autistischen Züge öffnet sie jeden Sicherheitsriegel.“

Emilia muss 24 Stunden im Auge behalten werden, aber auch eine Mutter muss z.B. zwischendurch mal auf die Toilette und ganz oft, schlingern sie in solchen Augenblicken an einer Katastrophe vorbei.

Das Haus steht an einer Bundesstraße. Neulich klettere Emilia unbemerkt über den Zaun und lief runter an den Kreisel an der Hauptstraße. Da fing ihr Vater sie dann wieder ein. Das sind echte Panikmomente!

Die Eltern überlegen, einen 2,50 m hohen Zaun zu bauen, damit Emilia sicher ist. Ihr neuster „Spaß“ ist: Steine und Stöcke auf die „lustigen, bunten vorbeifahrenden Dinger“ zu werfen … sie weiß es ja nicht besser. Auch für diese Situation wäre der Zaun ein großes Stück Sicherheit.

Aber leider bekommt man für einen Zaun dieser Höhe keine Ausnahmegenehmigung, weil das Haus ja an einer Bundesstraße steht und die Grundstücke einsehbar sein müssen. Und nebenbei: dieser Zaun wäre sehr teuer, Geld, dass die Familie nicht hat, weil ja plötzlich ein gutes Gehalt weggebrochen ist.

Nicht mal Autofahren ist möglich, da Emilia sich abschnallt und in den Kofferraum klettert. Die Mutter beantragte bei der KK einen speziellen Autositz, mit einer Vergurtung, die sie nicht selbst öffnen kann. Abgelehnt, weil Emilia ja sitzen kann. Das Gleiche mit einem speziellen Rahabuggy, damit sie in Ruhe einkaufen kann und Emilia nicht ständig ausbüxt. Abgelehnt, weil Emilia ja laufen kann. Sie auf Medikamente einzustellen, um sie vielleicht etwas ruhiger zu machen, hat bisher auch nicht geklappt, da Emilia obendrauf auch noch paradox auf Medikamente reagiert.

Fast schon problematisch ist, dass man Emilia nicht ansieht, dass sie so schwer krank ist. Sie ist ein entzückendes, kleines und hübsches Mädchen. Wenn sie in der Öffentlichkeit einen ihrer „Rastellis“ bekommt, laut wird und anfängt zu schreien, reagieren die Menschen mit Unverständnis.

Und ganz ehrlich!? Würde ich wahrscheinlich auch. Ich würde auch denken: “Was für ein unerzogener kleiner Panz.“

Die nervliche Belastung der Eltern, ist inzwischen an der Grenze. Dazu kommt die finanzielle Belastung. Der Vater verdient gut, aber damit bekommt er seine fünfköpfige Familie auch nur „satt“, für alles andere ist kein Geld übrig. „Leider“ liegt er mit seinem Gehalt mal wieder über der berühmten Einkommensgrenze.

Emilias Mutter sagte zu mir: „Weißt du Tina. Es ist leider so, dass wir fast das Gefühl haben, bestraft zu werden, weil unsere Ehe noch funktioniert. Wäre ich alleinstehend wäre ich Hartz IV-Fall und würde alle Leistungen bekommen. Da hätte ich mehr Einkommen.“

Das ist es, was ich immer sage: nicht alle Familien, die Hilfe brauchen, sind automatisch auch Sozialhilfeempfänger. Das macht es uns in diesem Fall nicht leichter, weil wir die Hilfsbedürftigkeit immer nachweisen müssen. Aber es gibt ja auch andere Mittel und Wege und an denen arbeiten wir.

Allein das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, gibt der Familie Kraft.

Und allein sind sie mit uns nicht mehr!

Seid uns herzlich willkommen, Emilia und Familie!